– Christian Hoffmann –

In den westlichen Industrieländern sind viele opportunistische Infektionen (OI) heute selten geworden. Die Inzidenz der Infektionen, die mit einer massiven Immunschwäche assoziiert sind, wie zum Beispiel CMV- und MAC-Erkrankungen, ist heute, verglichen mit Mitte der 90er Jahre, auf weniger als ein Zehntel zurückgegangen (Brooks 2009, Buchacz 2010). Doch die antiretrovirale Therapie hat nicht nur die Inzidenzen deutlich gesenkt, sondern verändert auch den Verlauf der OI erheblich. Während früher die Überlebenszeit nach der ersten AIDS-Erkrankung selten mehr als drei Jahre betrug, gibt es inzwischen Patienten, die zehn Jahre und länger mit AIDS leben. Eine eigene Studie verdeutlicht dies: Betrug die 5-Jahres-Überlebensrate nach einer zerebralen Toxoplasmose in den Jahren 1990-1993 noch 7 %, lag sie 1994-1996 bereits bei 29 %. Seit 1997 ist sie auf 78 % gestiegen (Hoffmann 2007).

Bis zu 90 % der Patienten, die heute noch an AIDS erkranken, wissen nichts von ihrer HIV-Infektion. Die übrigen wurden, von Ausnahmen abgesehen, aus verschiedenen Gründen bis zur AIDS-Diagnose nicht antiretroviral behandelt. Oft kommen diese Patienten sehr spät zum Arzt, später noch als früher und meist in einem bedrohlichen Zustand. AIDS bleibt schon deswegen lebensgefährlich, und eine schwere PCP wird nicht weniger bedrohlich dadurch, dass sich die langfristige Prognose der Patienten gebessert hat. Die akute Gefahr bleibt. Jeder HIV-Arzt sollte sich deswegen auch heute gut mit Diagnostik und Therapie der OI auskennen.

Hier hat sich in den letzten Jahren zwar einiges verbessert, doch sind längst nicht alle Probleme gelöst. So sind einige Infektionen wie PML oder Kryptosporidiose immer noch unzureichend behandelbar, bei anderen werden Resistenzprobleme zunehmen. Auch heute noch besitzen OI wie die PML eine Mortalität, die in etwa mit der eines Non-Hodgkin-Lymphoms vergleichbar ist (ART-CC 2009). Durch ART wird nicht immer alles sofort besser, manches durch Immunrekonstitution und atypische Verläufe sogar noch komplizierter. Dem Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS) wurde deswegen ein Unterkapitel gewidmet. Zu Prophylaxen existieren hierzulande noch immer keine Leitlinien (sie sind allerdings in Arbeit und werden in 2011 veröffentlicht), und die zuletzt 2008 aktualisierten US-Empfehlungen (http://aidsinfo.nih.gov/contentfiles/Adult_OI.pdf) können schon angesichts unterschiedlicher Seroprävalenzen nicht auf hiesige Verhältnisse übertragen werden.

Bei vielen OI gibt es zudem immer wieder diagnostische Probleme. Wer den Keim nicht kennt, sieht ihn nicht! Man kann nur empfehlen, Untersuchungsmaterial an die Referenzlabore zu schicken (Listen mit Ansprechpartnern usw. findet man in der Sektion Service auf der Website des Robert-Koch-Instituts: http://www.rki.de) und sich Rat bei einem Schwerpunktarzt oder in einem HIV-Zentrum zu holen.

Als erste Regel gilt auch heute bei fast allen OI: Je schlechter der Immunstatus, desto früher invasive Diagnostik! Man sollte nicht der Versuchung erliegen, dem Patienten unangenehme Untersuchungen ersparen zu wollen. Wenn man nichts findet, muss die Diagnostik wiederholt werden. Die Therapie muss rasch beginnen.

Die zweite Regel lautet: Viele OI können meist ausgeschlossen werden, wenn der Immunstatus bekannt sind. Tabelle 1 zeigt Richtwerte für CD4-Zellen.

Tabelle 1: CD4-Schwellenwerte, oberhalb derer bestimmte AIDS-Erkrankungen unwahrscheinlich sind. Die CD4-Zellen geben nur Richtwerte an, Ausnahmen sind möglich.

Ohne Grenze

Kaposi-Sarkom, Lungen-TBC, HZV, bakterielle Pneumonie, Lymphom

Ab < 250/ml

PCP, Soor-Ösophagitis, PML, HSV

Ab < 100/ml

Zerebrale Toxoplasmose, HIV-Enzephalopathie, Kryptokokkose, Miliar-Tbc

Ab < 50/ml

CMV-Retinitis, atypische Mykobakteriose

Die dritte Regel: Bei einer OI sollte so schnell wie möglich, wenn noch nicht geschehen, mit ART begonnen werden. Eine Immunrekonstitution ist der beste Schutz vor Rezidiven. Bei Infektionen wie der PML oder Kryptosporidien, für die keine spezifische Therapie existiert, ist die ART die einzige Hoffnung. Hier darf keine Zeit verschenkt werden. Aber auch bei PCP oder Toxoplasmose ist ein rascher Beginn wichtig. Obwohl die OI-Therapie nicht ohne Toxizitäts- und Interaktionsprobleme ist – die Auswahl an antiretroviralen Substanzen ist größer geworden, auf Nebenwirkungen kann reagiert werden. In ACTG A5164 wurden 282 Patienten mit einer akuten OI (63 % PCP) randomisiert, entweder sofort oder nach Beendigung der OI-Therapie mit der ART zu beginnen (Zolopa 2009). Nach 48 Wochen waren in der sofort behandelten Gruppe signifikant weniger Todes- und neue AIDS-Fälle aufgetreten. Das Risiko, die ART umstellen zu müssen, war unter Sofort-ART zwar etwas erhöht, nicht jedoch die Zahl schwerer unerwünschter Ereignisse, Krankenhausaufenthalte oder IRIS-Fälle. ACTG A5164 liefert somit klare Argumente für den sofortigen ART-Beginn bei PCP. Aber gilt dies auch für andere OIs? Wahrscheinlich nicht für alle (Lawn 2011): die Ergebnisse zweier randomisierter Studien, die bei Kryptokokkenmeningitis (Makadzange 2010) und bei der tuberkulösen Meningitis (Torok 2009) ungünstige Effekte durch eine frühe ART ergeben hatten, sprechen jedenfalls dagegen – siehe auch ART-Kapitel zu den Late Presentern.

Im Folgenden soll eine praktisch relevante Übersicht gegeben werden, bei der auf „Kolibris“ verzichtet wird. Die Literaturangaben beschränken sich meist auf interessante Reviews und randomisierte Studien.

Literatur, Übersichten zu OI

Antiretroviral Therapy Cohort Collaboration (ART-CC). Variable impact on mortality of AIDS-defining events diagnosed during combination antiretroviral therapy: not all AIDS-defining conditions are created equal. Clin Infect Dis 2009, 48:1138-51

Brodt HR, Kamps BS, Gute P, Knupp B, Staszewski S, Helm EB. Changing incidence of AIDS-defining illnesses in the era of antiretroviral combination therapy. AIDS 1997, 11:1731-8.

Brooks JT, Kaplan JE, Holmes KK, et al. HIVassociated opportunistic infections—going, going, but not gone: the continued need for prevention and treatment guidelines. Clin Inf Dis 2009, 48:609–611

Buchacz K, Baker RK, Palella FJ Jr, et al. AIDS-defining opportunistic illnesses in US patients, 1994-2007: a cohort study. AIDS 2010, 24:1549-59.

Hoffmann C, Ernst E, Meyer P, et al. Evolving characteristics of toxoplasmosis in patients infected with human immunodeficiency virus-1: clinical course and Toxoplasma gondii-specific immune responses. Clin Microbiol Infect 2007, 13:510-5.

Kirk O, Reiss P, Uberti-Foppa C, et al. Safe interruption of maintenance therapy against previous infection with four common HIV-associated opportunistic pathogens during potent antiretroviral therapy. Ann Intern Med 2002, 137:239-50.

Lawn SD, Török ME, Wood R. Optimum time to start antiretroviral therapy during HIV-associated opportunistic infections. Curr Opin Infect Dis 2011, 24:34-42.

Ledergerber B, Egger M, Erard V, et al. AIDS-related opportunistic illnesses occurring after initiation of potent antiretroviral therapy: the Swiss HIV Cohort Study. JAMA 1999, 282: 2220-6.

Makadzange AT, Ndhlovu CE, Takarinda K, et al. Early versus delayed initiation of antiretroviral therapy for concurrent HIV infection and cryptococcal meningitis in sub-saharan Africa. Clin Infect Dis 2010, 50:1532-8.

McNaghten AD, Hanson DL, Jones JL, Dworkin MS, Ward JW. Effects of antiretroviral therapy and opportunistic illness primary chemoprophylaxis on survival after AIDS diagnosis. AIDS 1999, 13:1687-95.

Sepkowitz KA. Effect of HAART on natural history of AIDS-related opportunistic disorders. Lancet 1998, 351: 228-230.

Torok ME. Randomized controlled trial of immediate versus deferred antiretroviral therapy in HIV-associated tuberculous meningitis. Abstract H-1224, 49th ICAAC 2009, San Francisco.

Zolopa A, Andersen J, Powderly W, et al. Early antiretroviral therapy reduces AIDS progression/death in individuals with acute opportunistic infections: a multicenter randomized strategy trial. PLoS 2009, 4:e5575.